nachfolgend lebender Menschen möglichst zu minimieren.28 Diese moralische Entscheidung kann mir niemand abnehmen. Sie ist nicht nur ausschließlich Last, sondern auch ein wichtiger Baustein eines guten, gelingenden Lebens in eigener freier Entscheidung:29 Autonomie und Rationalität sind vereinbar, „wenn die Präferenzen vom Entscheider selbst geformt werden“30 können. 2. In der praktischen „klugen“ Umsetzung meines angestrebten Lebensstils kann ich darüber hinaus mein Anreizsystem auto nom justieren, indem ich zum Zweck der Selbstbindung31 geeig nete „investive Pflöcke“ einschlage: Verzichte ich auf den Kauf eines SUV oder eines PKW generell, wird mir das eingangs skiz zierte Dilemma eines mobilen Menschen in der geschilderten Reinform schon nicht mehr begegnen. Ich kann stattdessen ein gutes, leichtgängiges Fahrrad kaufen, eine Bahncard 100 oder eine ÖPNVJahreskarte. Dass die Verfügbarkeit eines Verkehrs mittels die Häufigkeit seiner Nutzung durch Ständigkeit ersetzt,32 ist ein der Verkehrswissenschaft seit Langem bekann tes Phänomen. 3. Im Sinne der Klugheit setze ich nun die mir zur Verfügung ste henden Verkehrsmittel so ein, dass sie meiner Mobilitätsstilent scheidung im Sinne meiner KostenNutzenBetrachtung opti mal entsprechen. Ich könnte noch einen Teilschritt weiter gehen und nach dem Gebot der Übelminimierung handeln:33 Dann wäre die Bedienung meines Mobilitätsbedürfnisses nur gerecht fertigt, wenn ich die negativen Nebenwirkungen auf das ge ringstmögliche Maß bringe: Gibt es zum Beispiel eine angeneh me und finanziell vertretbare ÖPNVAlternative, ein gleich at traktives, weniger weit entferntes Ziel, kann ich meine CO2 Emissionen großzügig kompensieren?34 Je weiter sich meine geplante Mobilitätsaktivität über die Bagatellgrenze eines „mini malen Beitrags“ erhebt, etwa in Gestalt eines Interkontinental flugs, desto dringlicher greift das Gebot zur Übelabwägung und ggf. minimierung. 4. Eine Mitverantwortlichkeit für das Gelingen des staatlichen Handelns macht meine Eigenschaft als Staatsbürger aus.35 Bei Wahlen mit der Stimmabgabe ein Ja zum staatlichen Klima schutz zu signalisieren und auf Veränderungen zu drängen, da mit das Tempo des Klimawandels gebremst wird,36 ist das eine. Angemessene, rechtsordnungskonforme Maßnahmen37 der Re gierung gegen den Klimawandel aktiv mitzutragen, auch wenn diese für mich im Einzelnen durchaus belastend sein können, ist 28 In diesem Sinne sieht Singer (2013), S. 447 in der Umweltethik einen Anlass, Verschwendung grundsätzlich zu überdenken, was auf einen erheblichen Verzicht auf üblich erscheinende Konsumgewohnheiten hinausläuft. 29 Vgl. auch Höffes Ausführungen zur Tugend der Besonnenheit, in der sich personale, kollekti- ve und globale Dimensionen überlagern, vgl. ders. (2018), S. 86 f. Bayertz geht darüber hin- aus und erkennt sowohl in der antiken Glücksethik als auch bei Cicero die Pflicht, tugendhaf- te Handlungsdispositionen einzunehmen, vgl. Bayertz, (2014), S. 91 f., 167 ff. 30 Weikard (1999), S. 52. 31 Vgl. Bayertz (2014), S. 170. 32 Vgl. Feldhaus (1998), S. 191. 33 Zum Verhältnis von Übelminimierung und Übelabwägung vgl. SRU (1994), S. 59 ff. 34 Am Ende muss mir bewusst sein, dass mein Verzicht auf gleiche minimale Weise dazu bei- tragen kann, dass aufgrund sozialer bzw. ökonomischer Rückkopplungseffekte an meiner Stelle ein anderes Individuum die Emissionen für sich in Anspruch nehmen kann, vgl. Roser/ Seidel (2015), S. 137. Meine einzige Möglichkeit, mich wirksam dagegen zu wehren ist so ein- fach wie ökonomisch radikal: Ich verzichte nicht nur auf meine Autofahrt, sondern nehme zugleich eine finanzielle CO2-Kompensation äquivalent zur vermiedenen Fahrt vor. Das Ge- bot der Klugheit erfordert diesen dritten Teilschritt nicht mehr, es steht mir gleichwohl frei, ihn zu tun. 35 Vgl. den Tugendansatz von Höffe (2018), S. 92 f. oder die ordnungsökonomische Herleitung bei von Broock (2012), insb. Kap. 4, 5, oder mit der kritischen Distanz der Ethik aus protestan- tischer Sicht auch Trillhaas (1970), S. 429. 36 Vgl. Roser/Seidel (2015), S. 143; Singer (2013), S. 417. 37 Vgl. die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts (2021), Rn. 192 ff. aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Standpunkt FORUM das andere. Am Ende kennt niemand besser als ich die Mittel und Wege, mit denen ich mich – bei aller gegebenen Unsicherheit – möglichst effektiv für den Klimaschutz einsetzen kann – sei es privat, professionell oder politisch aktiv. Die eigenen Kräfte und Möglichkeiten dabei nicht zu überschätzen, die eigenen Stärken dagegen wirksam zur Entfaltung zu bringen,38 entspricht dem ■ Gebot der verantwortungsvollen Klugheit. Der Autor dankt Lara Eiser für den kritischen Austausch und zahlreiche Vorarbeiten. LITERATUR Barnett, Z. (2018): No free Lunch: The Significance of Tiny Contributions, in: Analysis 18 (1), S. 3-13 Bayertz, K. (2014): Warum überhaupt moralisch sein? 2. Aufl., München Blankart, C.B. (2011): Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 8. Aufl., München Birnbacher, D. (2016): Klimaethik. Nach uns die Sintflut?, Stuttgart Bundesverfassungsgericht (2021): Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021, - 1 BvR 2656/18 -, Rn. 1-270 Feldhaus, S. (1998): Verantwortbare Wege in eine mobile Zukunft. Grundzüge einer Ethik des Verkehrs, Hamburg Hösle, V. (1994): Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, 2. Aufl., München Homann, K. (2014): Sollen und Können. Grenzen und Bedingungen der Individualmoral, Wien Jonas, H. (2020): Das Prinzip Verantwortung, 8. Aufl., Frankfurt/Main Kingston, E., Sinnott-Armstrong, W. (2018): What´s Wrong with Joyguzzling, in: Ethical Theory and Moral Prac- tise 21, S. 169-186 Meyer, K. (2018): Was schulden wir künftigen Generationen. Herausforderung Zukunftsethik, Stuttgart Mieth, C.; Rosenthal, J. (2021): Spielarten des Moralismus, in: Neuhäuser, C.; Seidel, C. (Hrsg.): Kritik des Moralis- mus, 2. Aufl., Berlin 2021, S. 35-60 Nolt, J. (2011): How Harmful Are the Average American´s Greenhouse Gas Emissions?, in: Ethics, Policy and Environment 14, H.1, S. 3-10 Pies, I. (2022): 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik: Ordonomik im Dialog, Berlin Psychologists for Future (2022): Postkarten „Psychische Mechanismen“, www.psychologistsforfuture.org/wp- content/uploads/2021/08/Psy4F_Postkarten-psychMechanismen.pdf, Abruf 09.09.2022 Roser, D.; Seidel, C. (2015): Ethik des Klimawandels, 2. Aufl., Darmstadt Seneca, L.A. (1971): Über die Seelenruhe, in: Ders. Philosophische Schriften, Band 2, Darmstadt, S. 101-173 Singer, P. (2013): Praktische Ethik, 3. Aufl., Stuttgart Sinnott-Armstrong, W. (2005): It´s not my Fault, in: Sinnott-Armstrong, W.; Howarth, R. (Hrsg.): Perspectives on Climate Change: Sciene, Economics, Politics, Ethics, Milford, S. 285-307 SRU – Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (1994): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhaft-umwelt- gerechte Entwicklung, BT-Drs. 12/6995 vom 08.03.1994 Suchanek, A. 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